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Sex vor der Ehe: Ein Geheimnis der „Mädchen“?

17/08/2018
1147 wörter

Wenn in einer Gesellschaft über Sex generell nicht gesprochen wird, und auch nicht über den weiblichen Körper: Wie beeinflusst dann dieses gesellschaftliche Tabu eine Frau, die zum ersten Mal Sex hat - vor allem, wenn es vor der Ehe geschieht?

 

„Sie ist noch ein Mädchen“ – dieser Ausspruch wird in vielen arabischen Ländern gebraucht, um ein Mädchen oder eine Frau zu beschreiben, die nicht verheiratet ist. Diese Feststellung impliziert die Annahme, dass sie noch nicht mit einem Mann geschlafen hat und Jungfrau ist. Da Sex, wie viele Fragen des Körpers und besonders des weiblichen Körpers, ein gesellschaftliches Tabu ist, gilt das umso mehr für den Sex vor der Ehe.

 

Vorehelicher Sex als Lebensgefahr für Mädchen und Frauen

Nach den vorherrschenden gesellschaftlichen und religiösen Regeln und in manchen Staaten sogar laut der geltenden Gesetze ist Sex vor der Ehe verboten. Er wird durch die Gesellschaft, die Familie und in vielen Fällen auch von Gerichten verurteilt. Dabei können die Urteile der Gesellschaft die härtesten sein, da sie manchmal bis zur Tötung von Frauen reichen – als extremste Form ihrer starken und systematischen Unterdrückung. Zu dieser Unterdrückung gehört auch, dass Frauen der Sex vor der Ehe verboten ist, während er – wie wir alle wissen – für Männer erlaubt ist, auch wenn anderes behauptet wird.

 

Geschlechtsverkehr als öffentliche Angelegenheit

In diesem Bericht soll es nicht um Sex vor der Ehe gehen, um dieses Tabu, das nicht angetastet oder auch nur diskutiert werden darf und wenn, dann nur im Geheimen geschieht. Vielmehr sollen die Auswirkungen dieses gesellschaftlichen Tabus auf Frauen und ihre ersten vorehelichen sexuellen Erfahrungen ergründet werden: ihre Gedanken, Fragen und Gefühle, ihre persönliche Auseinandersetzung mit einer gesellschaftlichen Tradition, die Geschlechtsverkehr als öffentliche und nicht als private Angelegenheit versteht und insbesondere die Frauen dafür zur Rechenschaft zieht. Dieses Tabu löst bis heute bei vielen Frauen Ängste aus. Diese reichen bis zur Angst um das eigene Leben. Oftmals führt diese Furcht dazu, dass Frauen ihrem eigenen Körper gegenüber Hass, Fremdheit und Scham empfinden.

Für diesen Bericht habe ich mit Frauen aus verschiedenen arabischen Ländern über ihr erstes Mal gesprochen: darüber, es außerhalb der Institution der Ehe zu tun, über ihre Ängste und Gedanken vor, während und nach dem ersten Mal und über ihre Gefühle, die im Laufe der Zeit zwar nicht ganz verblassen, mit denen sie aber vielleicht auf andere Weise umgehen.

 

Mit den Ängsten und sich selbst versöhnt

Samar*, 34 Jahre alt, sagt: „Ich hatte erst spät Sex. Grund waren meine vielen Ängste, die alle mit den gesellschaftlichen Vorstellungen zum Sex vor der Ehe zu tun haben. Wie soll ich später heiraten, wenn ich keine Jungfrau bin? Ich habe auch daran gedacht, dass viele junge Männer in den arabischen Ländern zu vielen Dingen bereit sind, aber am Ende eine Frau heiraten werden,‘deren Mund niemand außer ihrer Mutter geküsst hat‘. Dass mein soziales Umfeld offener ist und diese Offenheit auch lebt, hat es mir erleichtert, solche Ängste zu verringern. Dann habe ich mir gesagt, dass für mich das grundlegende Kriterium für Sex außerhalb der Ehe die Liebe zu der Person ist. Und tatsächlich hat dies beim ersten Mal die Auswirkungen auf mich gemildert. Ich hatte viele Gefühle, die mich davon abhielten, an meine Ängste zu denken: Ich habe darüber nachgedacht, wie ich als Frau all diese Gefühle mit ihm erleben kann. Später, als mein Partner wechselte, haben die Ängste andere Formen angenommen – die Angst vor einer Schwangerschaft, die Angst davor, dass es meine Familie herausfinden würde, die Angst vor der Meinung meiner engen Vertrauten zu dem, was ich getan hatte, die Angst vor Krankheiten. Mit der Zeit habe ich mich mit diesen Ängsten und mit mir selbst versöhnt, denn mein Körper geht niemanden etwas an.“

"Ich hatte viele Gefühle, die mich davon abhielten, an meine Ängste zu denken"

 

Die Schuldgefühle schwinden

Salwa*, 33 Jahre alt, sagt: „Als ich zum ersten Mal Sex hatte, hatte ich furchtbare Angst. Damals war ich 24 Jahre alt und hatte große Angst vor der Sache selbst. Währenddessen ging mir das Bild meines Vaters nicht aus dem Kopf und danach habe ich viel geweint. Ich habe lange Zeit gebraucht, bis ich zum ersten Mal Sex haben konnte. Was mich dazu ermutigte, war, dass ich diese Person sehr liebte. Aber die Angst wurde größer, als wir uns trennten. Ich fürchtete, dass ich niemanden finden würde, der dazu bereit wäre, mit mir zusammen zu sein und mich zu lieben. Ich fühlte das Bedürfnis, es meiner Mutter zu erzählen, aber wie sollte sie das verstehen? Dies sind die Geheimnisse vieler Frauen, und vielleicht bleiben sie es für immer. Was am meisten wehtut, ist die Schande, die den Sex umgibt, der doch eigentlich gesund für Körper und Geist und die natürlichste, menschlichste aller Handlungen ist – als ob es für Frauen verboten wäre, glücklich zu sein.“

In unserem Leben als Frauen erleben wir Gefühle von Schande, Stigmatisierung, Schuld und Sünde, was unsere Körper angeht, besonders in Bezug auf das Jungfernhäutchen und unsere weiblichen Geschlechtsorgane.

 

Das Jungfernhäutchen zerriss nicht

Schirin*, 28 Jahre alt: „Als ich die ersten Male Sex hatte, war es ein echtes Problem, einen Ort zu finden. So war es nicht einfach, in Damaskus einen Ort auszusuchen, der unsere Bedingungen erfüllte, wenn er überhaupt existierte. Er sollte weit weg sein, in einem Viertel, in dem niemand unsere Gesichter erkennen würde. Außerdem müssten wir dem Besitzer der Wohnung oder des Hauses vertrauen können, dass er die Sache vor allen verschweigen würde, mit denen wir täglich zu tun haben. Oftmals waren wir gezwungen, den Gedanken an Sex aufzugeben, weil es diesen physischen Ort einfach nicht gab. Ganz zu schweigen von der ständigen Angst bei den ersten Malen, die tatsächlich den Genuss am Sex überschattete, weil wir unbewusst fühlten, dass wir etwas taten, das in dieser Gesellschaft verboten war. Später entwickelte sich diese Angst selbst zugleich zu einem Genuss; dem Genuss am Verbotenen, dem Genuss daran, dass du heimlich Sex hast, inmitten genau der Gesellschaft, die es dir verbietet. Ich erinnere mich auch noch daran, dass bei meinem ersten Mal mein Jungfernhäutchen nicht riss und ich fortwährend das Bedürfnis hatte, mich bei meinem Partner dafür zu rechtfertigen. Grund dafür war damals das gesellschaftlich bedingte Grauen vor der Idee, dass ich vielleicht keine Jungfrau sei! Und tatsächlich wurde mein Partner geradezu verrückt und begann, seine Freunde anzurufen, die Ärzte waren, um sicherzugehen, dass ich die Wahrheit sage und tatsächlich Jungfrau bin. Mein Jungfernhäutchen ist bis heute nicht gerissen, das liegt an der Art des Häutchens, das ich habe, wovon ich wegen mangelnder Aufklärung keine Kenntnis hatte. Aber bis heute habe ich das Gefühl, mich gegenüber arabischen Männern dafür rechtfertigen zu müssen, dass mein Jungfernhäutchen noch nicht gerissen ist.“

 

Sex als rebellischer Akt, um das Tabu zu brechen

Maha*, 30 Jahre alt: „Ich hatte zum ersten Mal Sex, als ich 20 Jahre alt war. Die Entscheidung dazu traf ich, als eine Bekannte im Alter von 25 Jahren bei einem Verkehrsunfall starb. Damals war ich in einer Beziehung. Ich liebte die Person nicht sehr, aber ich sagte mir, dass ich nicht morgen sterben will, bevor ich Sex gehabt habe. Und ich wollte nicht warten, bis ich heirate – denn was wäre, wenn ich niemals heiraten würde? Also schlief ich mit ihm. Die erste Erfahrung war nicht schön, sondern eher ein bisschen seltsam. Ich hatte nicht aus Liebe Sex, sondern um das Tabu zu brechen. Es war ein rebellischer Akt. Und weil mir mein Umfeld ähnlich ist und wir zu dieser Sache die gleiche Meinung haben, fühlte ich keine Schuld. Ich habe mir keine Sorgen darüber gemacht, ob meine Eltern es erfahren oder nicht. Aber am seltsamsten war, dass ich nicht blutete. Die Sache war einfacher, als ich es mir zuvor vorgestellt hatte.“

 

Leben in ständiger Angst?

Viele von uns Frauen verbinden mit ihrem Körper Gefühle wie Schande, Stigmatisierung, Schuld und Sünde, insbesondere in Bezug auf das Jungfernhäutchen und die weiblichen Geschlechtsorgane. Dieses Erleben erzeugt von klein auf ein Gefühl der Fremdheit gegenüber unserem Körper, der nur uns gehört und niemand anderem. Aber in unserer Realität gehören unsere Körper den patriarchalischen Gesellschaften. Sie kontrollieren uns, machen uns Angst und oft töten sie unsere Körper, weil sie ihrer Denkweise zufolge verantwortlich für die Ehre der Gesellschaft sind. Den Preis für diese Denkweise zahlen viele Frauen mit Angst, die in manchen Fällen nicht einmal mit der Zeit vergeht. Diese Angst hindert viele Frauen daran, die Natürlichkeit und Wahrheit ihrer Körper zu spüren. Sie lernen sie nie kennen, weil dazu die gesamte Gesellschaft zustimmen müsste – die Gesellschaft, die gewaltsam entschieden hat, dass der Körper einer Frau nicht ihr gehört.

*die Namen sind Pseudonyme