Wo sollen wir in unserer Sprache etwas über die Themen lesen, die uns bewegen, wenn wir nicht selber darüber nachdenken und schreiben?

29/06/2018
1378 wörter

Trotz aller Herausforderungen, die sich uns stellen, wenn wir auf Arabisch zu den Themen Gender/Sexualität/Körper und deren intersektionalen Aspekten schreiben, haben wir als Feministinnen und Feministen aller Schattierungen die Möglichkeit, unseren Erfahrungen, Gedanken, Fragen und Krisen Ausdruck zu verleihen und die der arabischen Sprache inhärenten Tabus wie auch deren Rigidität zu durchbrechen.

In der geschlossenen Facebook-Gruppe für unsere Leute, die bei der Internet-Plattform „Wiki Gender“ mitmachen, hatte kürzlich mal wieder jemand eine Frage in die Runde geworfen. „Wiki Gender“ ist ein Forum, mithilfe dessen wir versuchen, einen Wissenspool in arabischer Sprache über Gender (als soziale Kategorie), Feminismus, Sexualität und andere Themen, die uns bewegen, aufzubauen, weiterzuentwickeln und zu konsolidieren.

Die Frage lautete, wie sich der englische Begriff „gender non-conforming“ am besten ins Arabische übersetzen ließe. Daraufhin kamen von den Gruppenmitgliedern eine Vielzahl von Übersetzungsvorschlägen. Der erste griff eine vom ägyptischen Women and Memory Forum (WMF) verwendete Übersetzung auf, die sich im Deutschen ungefähr wiedergeben lässt mit: „eine sich der stereotypen Gender-Einteilung widersetzende Person“. Der zweite Vorschlag bestand in einer im Arabischen schon relativ etablierten Formulierung, die enger an den englischen Terminus angelehnt ist (auf Deutsch in etwa: „nicht-genderrollenkonform“). Woraufhin ein Mitglied zurecht kommentierte, beide Übersetzungsvarianten seien zu schwerfällig und wir sollten nach einer klareren und simpleren Variante suchen. Ich äußerte die Meinung, die Formulierung „nicht-genderrollenkonform“ sei deshalb problematisch, weil sie die klassisch-binäre Einteilung in zwei biologische Geschlechter nur noch weiter verfestige. Wer aus diesem Schema herausfalle, dem hafte demnach das Stigma des Fehlerhaften an, während Formulierungen wie „sich widersetzend / sich nicht fügend“ die bewusste Ablehnung einer solchen Typologisierung zum Ausdruck brächten. Dann folgten zwei Vorschläge, die auf breitere Zustimmung stießen und die auf Deutsch so etwas wie „nicht-gendergefügig“ und „sich keiner Gender-Einteilung unterwerfend“ bedeuten. Beide schienen uns leichter zu handhaben und vielleicht auch eindeutiger.

Bei einem der wöchentlichen Treffen des „Wiki Gender“-Teams kam ferner die Frage nach der passenden Übersetzung von „heteronormativity“ auf. Auch hier boten sich diverse arabische Übersetzungsvarianten an, deren Bedeutungen im Deutschen jeweils wiedergegeben werden könnten mit: „Zur-Norm-Setzung der Heterosexualität“, „Normativierung auf Basis der Heterosexualität“ oder eben einfach „Heteronormativität“. Nach langer Debatte einigten sich meine Team-KollegInnen darauf, der zweiten Variante den Vorzug zu geben, denn diese beschreibe am präzisesten die Vorstellung, wonach die Heterosexualität als die „normale“, „gesunde“ Form von sexueller Orientierung zu betrachten sei – und demzufolge alles, was vom heterosexuellen Standard abweiche, als „abweichend“.

Diese Art von Fragestellungen und Herausforderungen begegnet mir bei meiner Arbeit mit meinen „Wiki Gender“-Kolleginnen und Kollegen Tag für Tag. Es geht dabei nicht nur um das Erstellen von Übersetzungen und Definitionen. Von Anfang an haben wir auch gemeinschaftlich an der Ausformulierung unserer redaktionellen Linie gearbeitet. Beispielsweise standen wir vor dem Problem, wie wir in unseren Übersetzungen und Texten im Wiki eine gendergerechten Sprache sicherstellen können. Nach vielen Diskussionen bei einer Reihe von Treffen und Workshops haben wir uns vorläufig darauf geeinigt, möglichst sowohl die feminine als auch die maskuline Form zu verwenden und dabei stets die feminine Form voranzustellen – entgegen den herrschenden Konventionen im Arabischen. Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass solche Bemühungen auf der sprachlichen Ebene viel zu kurz greifen, ja letztendlich noch zur Verfestigung der existierenden Gender-Binarität beitragen könnten. Es handelt sich einfach nur um ein provisorisches Ergebnis unserer Diskussionen. Uns ist klar, dass unsere Redaktionspolitik ständig im Fluss ist. Sie muss immer wieder an unseren aktuellen Wissens- und Diskussionsstand angepasst werden und sollte nicht im Elfenbeinturm verharren.

Als wir mit dem Wiki-Projekt begannen, waren wir zunächst damit beschäftigt, Informationen über Organisationen und Gruppen zusammenzutragen, die im Bereich Gender und Frauenrechte tätig sind, um Kontakte zu knüpfen und uns zu vernetzen. Dann haben wir angefangen, die arabischsprachigen Wissensbestände einige jener Frauenorganisationen und -gruppen in unserer Region zu dokumentieren und zu archivieren. Doch mit der Zeit merkten wir, die wir uns für die Themen Feminismus, Gender und Sexualität interessierten, dass unser Wissensbedarf immer größer wurde. Nicht immer fanden wir auf Arabisch und gleichzeitig unter feministischem Blickwinkel Antworten auf unsere Fragen.

Und so beschlossen wir, in Ergänzung zu den diversen schon bestehenden feministischen Ansätzen – sei es in Form von Arbeits-, Lektüre-, und Diskussionsgruppen oder von Zeitschriften und Übersetzungen – „Wiki Gender“ ins Leben zu rufen. Es sollte eine interaktive, dezentrale, sich stets weiterentwickelnde Plattform zur Erstellung von Open-Content-Texten in arabischer Sprache werden. Ein Forum, um unseren Fragen nachzugehen und über Themen, Konzepte, Personen, Ereignisse und Kampagnen zu schreiben, die uns am Herzen liegen. Ein Forum, wo wir Bücher, Filme, Songs und andere künstlerisch-literarische Werke präsentieren, rezensieren und manchmal auch übersetzen. Wo wir all das archivieren, was in arabischer Sprache an Studien, Forschungsbeiträgen, Artikeln, Karikaturen, Fotos usw. produziert wird.

Nach wie vor liegt das meiste, was im akademischen und nicht-akademischen Bereich zu Sexualität und Gender publiziert wird – von Terminologie bis hin zu Debatten und Theoriebildung – in nicht-arabischen Sprachen vor, insbesondere auf Englisch – und zwar selbst das, was arabischsprachige Feministinnen und Feministen schreiben, die in der Region leben. Zum einen liegt das daran, dass Fächer wie Gender Studies oder Women Studies vor allem an Universitäten angesiedelt sind, deren Unterrichtssprache nicht Arabisch ist und die von ihren Studierenden erwarten, dass sie ihre Arbeiten in eben jener Unterrichtssprache verfassen. So bleibt die Studentin ( die Absolventin  die Wissenschaftlerin  die Autorin) meist im Englischen, seinem Vokabular und seinen Kontexten, verhaftet. Und so kommt es, dass es uns einfacher und zugleich tiefgründiger erscheint, Fragen, die uns und unser Alltagsleben direkt berühren, auf Englisch zu behandeln. Die arabische Sprache wirkt demgegenüber wie eine träge Schildkröte, die nur hin und wieder in Gang kommt, wenn Aktivistinnen, Wissenschaftlerinnen und feministische Gruppen und Institutionen sich ihrer bedienen, um darin Studien zu verfassen (oder Texte aus anderen Sprachen in jene zu übersetzen).

Zum anderen stellt das Schreiben auf Arabisch zu den Themen Gender/Sexualität/Körper und deren intersektionalen Aspekten immer noch eine große Herausforderung an und für sich dar. Denn viele von uns Araberinnen und Arabern sind nicht daran gewöhnt, überhaupt über unsere Sexualität nachzudenken, und wir geben uns mit dem zufrieden, was uns über unsere körperlichen Begierden beigebracht worden ist. Und dann auch noch darüber schreiben?

Die meisten von uns sind mit äußeren Merkmalen auf die Welt gekommen, die Hinweise auf unser biologisches Geschlecht (männlich oder weiblich) geben. Daraufhin wurde uns automatisch ein soziales Geschlecht (gender) zugeschrieben (Mann oder Frau) – und damit auch ein ganzes Bündel von gesellschaftlichen Erwartungen: Sie erfüllt eine bestimmte soziale Rolle. Er hat eine bestimmte sexuelle Orientierung… Alle möglichen Verhaltensweisen, Imaginationen und Begehrensmuster werden auf das vermeintliche Geschlecht und die vermeintliche Orientierung projiziert. So gesehen steht der Prozess der Selbstreflexion und darauf aufbauend der gesellschaftlichen Reflexion über Dinge wie Sexualität, körperliche Selbstbestimmung und Einvernehmlichkeit noch ganz am Anfang und es sind den Debatten immer noch Grenzen gesetzt. Zahlreich sind die gesellschaftlichen Tabus, sowohl auf der mentalen als auch auf der sprachlichen Ebene.

Der interaktive Ansatz des Wikis, für den wir uns entschieden haben, basiert auf dem Bewusstsein, dass in dieser Phase jeder feministische Beitrag wichtig ist für den Aufbau eines arabischsprachigen Wissenspools. Jeder Neuzugang ist dringend erwünscht und willkommen. Wir sind vielfältig, was unsere Hintergründe, unser Alter, unsere Erfahrungen, unsere Praktiken und unserer Überzeugungen anbelangt, und darin liegt eine wertvolle Chance. Unsere Beiträge fügen sich allesamt Stück für Stück ineinander und bilden somit Narrative darüber, wie wir genannt werden wollen, welche Themen uns berühren, welche Ereignisse in die Geschichte unsere Kampfes Eingang gefunden haben etc.

Da die wissenschaftliche Produktion auf Arabisch zu den Themen Sexualität und Gender ein sehr junges und rares Phänomen ist, sind wir und andere noch stark auf die Übersetzung der Terminologie aus anderen Sprachen angewiesen, was manchmal dazu führt, dass Bezeichnungen unklar, schwierig zu verstehen und umständlich sind, wie aus den oben genannten Fragestellungen deutlich geworden ist. Das führt bei unserer Arbeit mit „Wiki Gender“ stets zu Diskussionen wie diesen: Wann sollen wir etwas übersetzen und wann selber etwas verfassen? Woher sollen wir das Wissen nehmen, wenn wir in unserer eigenen Sprache keine Spur davon finden – und das, obwohl die Beschäftigung mit Feminismus und Sexualität in unserem Leben einen so festen Platz hat? Sind wir vielleicht einfach von derselben Erstarrung befallen wie unsere Sprache? Fällt uns deshalb die Anpassung an neue Wortkonstruktionen so schwer und ist das der Grund, weshalb wir ständig auf der Suche nach Kürze, Leichtigkeit und Klarheit sind? Hier stellt sich für mich die Frage: Sind denn all jene Termini im Englischen wirklich so simpel und klar? Oder haben wir uns einfach daran gewöhnt, sie zu lesen, dass wir sie so akzeptieren wie sie sind?

Aber auch wenn bei einigen Begriffen der Prozess ihrer Übersetzung beziehungsweise ihrer Implementierung im Arabischen mühsam ist, so ist es doch ein dynamischer, variabler Prozess, welcher der auf permanentem Nachforschen und gemeinschaftlichem Arbeiten beruhenden Natur des Wiki entgegenkommt. Die Artikel und Webseiten des Wiki sind nicht starr und unabänderlich, wie es Zeitungsartikel oder sonstige gedruckte Veröffentlichungen sind, unter denen die Namen ihrer Verfasserinnen und Verfasser stehen. Vielmehr verändern sie sich, sobald sich das Wissen verändert oder wir zu neuen Übereinkünften gelangen. Am Anfang haben wir den Begriff „Transgender“ auf Arabisch mit einem Ausdruck wiedergegeben, der auf Deutsch in etwa mit „Gender-Transformation“ übersetzt werden könnte. Nachdem wir einige Zeit miteinander und mit anderen feministischen Gruppen darüber diskutiert haben, sind wir dazu übergegangen, einen Terminus zu verwenden, der eher „Überquerung von Gendergrenzen“ beinhaltet. Denn ein solcher schien uns unbelastet von dem Dogma einer Gender-Binarität zu sein, sowie von einer Vorstellung von Transformation, die suggeriert, es ginge um die Mutation von einem natürlichen Zustand hin zu einem anderen. Stattdessen sollten wir Gender-Identitäten als ein breites Spektrum begreifen, in dem sich zu verorten einzig und allein den einzelnen Individuen zukommt. Sie entscheiden sich damit bewusst für einen Übergang zu etwas, was besser zu ihnen passt.

Ferner haben wir – in dem Versuch, alles zusammenzutragen, was viele andere bereits an genderwissenschaftlichen Begriffsbestimmungen hervorgebracht haben, und um dazu anzuregen, über verschiedene Formulierungsmöglichkeiten zu reflektieren (länger vs. kürzer, klarer vs. komplizierter) – das „Wörterbuch genderwissenschaftlicher Termini“ ins Leben gerufen. Dort werden zu bestimmten englischsprachigen Fachbegriffen jeweils alle gängigen arabischen Benennungen aufgelistet, die von diversen Organisationen mit Arabisch als Arbeits- und Publikationssprache verwendet werden. Genauso wie alle anderen Inhalte, die wir produzieren, ist dieses Wörterbuch nicht statisch. Man kann es jederzeit aktualisieren, etwas hinzufügen oder streichen, oder zusätzliche Quellen für mögliche Beiträge einbeziehen.

Es ist wie eine Expedition in die Weiten der arabischen Sprache, bei der sich Ideen und Erfahrungen schrittweise zu einem großen Ganzen fügen. Wir alle, die wir uns in dem Bereich engagieren, müssen manchmal viel Zeit und Energie investieren, um zu mühsamen Kompromissen zu gelangen. Doch dann gibt es auch Erfolgsmomente, wenn es uns gelingt, für Begriffe, die uns wichtig sind, arabische Äquivalente zu finden. Solange wir uns wirklich anstrengen, sind unsere Bemühungen stets wertvoll. Als Beispiel sei das Wort dschinsaniya (Sexualität) genannt, welches die palästinensische Organisation „Muntada – The Arab Forum for Education, Sexuality and Reproductive Health“ definiert als „eine anthropologische Konstante, die den Menschen ein Leben lang begleitet. Sie ist ein Komplex aus verschiedenen Aspekten: (biologisches) Geschlecht, Gender als soziale Identität, Rollenverhalten, sexuelle Orientierung, Erotik bzw. sexuelle Erregung, Lust, Intimität, Fortpflanzung. Sie drückt sich aus in Gedanken, Phantasien, Begierden, Überzeugungen, Haltungen, Werten, Verhaltensweisen, Praktiken, Rollen und Beziehungen.“ In diesem Fall vermochte die von Muntada gewählte Bezeichnung dschinsaniya etwas auszudrücken, was der Leichtigkeit und Logik des englischen Begriffs sexuality nahekommt. Es handelt sich um eine Verschmelzung des Wortes dschins (welches sich im Arabischen sowohl auf das „biologische Geschlecht“ als auch auf den „sexuellen Akt“ beziehen kann) mit dem Wort insaniya („Menschheit“, „Menschlichkeit“), welches auf diejenigen Aspekte von Sexualität verweist, die wir auf der Ebene der Gedanken, Überzeugungen, Phantasien, Werten, Praktiken und Beziehungen sowie der des Körpers erleben. Außerdem erinnert es uns an die Existenz von Rechten, die untrennbar an das Menschsein geknüpft sind.

Meiner Überzeugung nach besteht die Herausforderung für uns Produzentinnen und Produzenten feministischen Wissens – ob bei „Wiki Gender“, www.jeem.me oder anderen Plattformen – darin, uns mehr für das gesamte Spektrum an Erfahrungen zu öffnen, angefangen vom Reflektieren und Ausdrücken unserer eigenen individuellen Sexualität bis hin zu Überlegungen, wie man die innergesellschaftliche Debatte zum Themenfeld Gender/Sexualität/Körper in Gang bringen und verstetigen könnte. Und sie besteht darin, immer wieder die bereichernde Erfahrung zu machen, dieses Wissen hinsichtlich Gender, Sexualität, Körper und Feminismus selber mit eigenen Händen und in arabischer Sprache zu schaffen, und nicht darauf zu warten, dass uns die akademische Welt die Richtung weist.

Wir als Feministinnen und Feministen aller Schattierungen, als gleichgeschlechtlich, heterosexuell oder bisexuell Liebende, als genderqueere Menschen, haben also durchaus die Möglichkeit, unseren Erfahrungen, Gedanken, Fragen und Krisen Ausdruck zu verleihen, sei es auf schriftlichem oder auf audio-visuellem Wege. Mit Beharrlichkeit und nicht nachlassender Schaffenskraft können wir die der arabischen Sprache inhärenten Tabus wie auch deren Rigidität durchbrechen. So wie es durch intensive Kampagnen- und Publikationstätigkeit in den vergangenen zehn Jahren gelungen ist, den Gebrauch des Ausdrucks „sexuelle Belästigung“ zum Allgemeingut werden zu lassen und vielen Frauen dabei zu helfen, sich frei von Angst darüber zu äußern, was ihnen an Belästigungen und Übergriffen widerfahren ist, können auch wir, mit unserer kontinuierlichen, vielgestaltigen Wissensproduktion, das Verständnis für unser Themenfeld Feminismus/Gender/Sexualität wecken, verbreitern und fester verankern – unter Verwendung unserer eigenen Sprache und indem wir uns derjenigen Aspekte bedienen, die zu uns passen.

übersetzt von Rafael Sanchez